Damit ihr das Buch ich knall euch ab nich lesen müsst :-))

 

Morton Rhue, der durch sein bisher einziges Jugendbuch "Die Welle"

Eingang in fast jedes Klassenzimmer Deutschlands gefunden hat, hat ein

neues Buch geschrieben. Es heißt "Ich knall euch ab", ist dieses Jahr

beim Ravensburger Verlag als Taschenbuch herausgekommen und kam

bereits 2 Monate nach Erscheinen in die 3. Auflage. Es kostet 4,95 Euro,

die ISBN ist 347358172

Nur kurz zum besseren Verständnis: Morton Rhue (sein richtiger Name ist

Todd Strasser) schrieb mit der "Welle" ein Buch über ein Experiment zum

Autoritätsgefüge im 3. Reich. Ein Lehrer, der seinen Schülern auf direkte

und eindringliche Weise die Führerstruktur, die Hierarchie und das

Aufgehen des Einzelnen in der Masse beibringen möchte, startet ein

Experiment: er, der Lehrer wird der "Führer" einer Bewegung, die sich "Die

Welle" nennt, die Schüler sind die Mitglieder. Das Experiment

verselbständigt sich, er kann der entstehenden faschistoiden Masse der

Schüler fast nicht mehr Herr werden.

Ein wahnsinnig interessantes Jugendbuch! Das finde allerdings nicht nur

ich, sondern wohl auch die meisten Deutschlehrer, denn es wird immer

wieder in ganzen Klassensätzen bestellt und gehört zu den

Standardtiteln, die etwa in der 7. bis 10. Klasse besprochen werden - und

das mittlerweile seit 18 Jahren!

Das heißt, dass Rhue seit 1984 keinen weiteren Titel veröffentlich hat -

kein Wunder, dass ich hohe Erwartungen hatte und sehr gespannt auf

sein neues Buch war!

.

Zum Inhalt:

In "Ich knall euch ab" geht es um einen fiktiven Fall von zwei

Amokläufern in einer kleinstädtischen amerikanischen Schule.

Ganz sicher ist das Buch unter dem Eindruck der Ereignisse von Littleton

geschrieben worden, es verarbeitet relativ viele Elemente dieses Falles.

Der Autor geht von einem Szenario aus, in dem das Drama (das anfangs

nicht näher erklärt wird) bereits stattgefunden hat; er schickt eine junge

Frau (quasi als sein Alter ego) in die Kleinstadt und lässt diese das

persönliche und schulische Umfeld der jugendlichen Täter erforschen.

Das ganze Buch besteht so fast nur aus Interviews, die diese Frau mit

Mitschülern, Freunden, Lehrern, dem Direktor, Nachbarn und Eltern

geführt hat. Außer diesen Interviews enthält es Abschiedsbriefe an die

Eltern, E-mails der beiden Täter und Aufzeichnungen von Telefonaten.

Gary und Brendan sind beides krasse Außenseiter in ihrer Schule.

Während Gary ein eher introvertierter Typ ist, der unter seiner Rolle leidet

und alles in sich hineinfrisst, richtet sich Brendans Wut eher nach außen.

Gemeinsam jedoch schaukeln sie sich in ihrem Frust, ihrer Verzweiflung

und ihrem Hass gegenseitig hoch.

In der Schule gibt es die "In-Clique", das sind vor allem die

Footballspieler, die Cheerleader und überhaupt die "Sportlichen". In

Gesprächen mit einigen Schülern, die früher von anderen Schulen auf

diese gewechselt sind, wird deutlich, dass die Abschottung der Cliquen

extremer war als allgemein sowieso schon üblich. Cliquen gibt es überall,

Außenseiter ebenso, aber die Trennung der Gruppen und Cliquen ist nicht

unbedingt überall so stark ausgeprägt. An dieser Schule werden

diejenigen, die anders sind als die erwünschte Norm (sportlich,

leistungsstark, schicke Klamotten, bestimmte Einstellungen) nicht nur

bewusst geschnitten, sondern auch "gemobbt".

Immer wieder erleben nicht nur Gary und Brendan, sondern auch andere

Mitschüler, so ein Freund der beiden und zwei Mädchen, dass mit zweierlei

Maß gemessen wird: Lehrer beurteilen Fehlverhalten vollkommen anders,

wenn es vom coolen Footballstar kommt oder aber von Brendan;

Mitschüler lästern, schließen aus und werden auch gewalttätig.

Dass es zu einer Katastrophe gekommen ist, zeigen schon die ersten

Seiten, in denen ein Abschiedbrief Garys an seine Mutter in Auszügen

abgedruckt wird. Ein unendlich trauriger Brief, in dem Gary sein Gefühl der

Ausweglosigkeit (ich weiß, dass ich nie glücklich werden kann, du könntest

nichts daran ändern) in wenigen Worten auf erschütternde Weise deutlich

werden lässt.

Gary und Brendan sind nicht wirklich allein, denn sie haben ja sich, und da

gibt es auch noch Ryan und das Mädchen Allison; dennoch: vier

Außenseiter zusammen, das mag zwar besser sein als vier Außenseiter

getrennt für sich, aber jeder spürt natürlich trotzdem, dass sie anders und

letztendlich einsam sind.

Während einer Schulparty in der Turnhalle kommt es dann zum

Showdown: Brendan und Gary sind bewaffnet, haben zudem selbst

Bomben gebaut und bedrohen ihre Mitschüler. Panik bricht aus...

Was genau geschieht, lest selber. Es ist auch nicht wirklich wichtig, denn

diesen Fall hat es so nie gegeben, aber andere ähnlich gelagerte. Wie

jetzt was genau und wo ablief, ist unwesentlich, denn dass es hier nicht

um einen "normalen" Roman mit einer Spannung erzeugenden

Einleitung, einem dramatischen Höhepunkt und einem klärenden Schluss

geht,

dürfte mittlerweile klar geworden sein.

Morton Rhue versucht mit diesem Jugendbuch, Verständnis für das

Entstehen einer solchen Gewaltsituation zu entwickeln. Er lässt so viele

unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, breitet mannigfaltige Denk-

und Sichtweisen vor dem Leser aus, beleuchtet die Katastrophe nicht nur

von der Tat und dem aktuellen Geschehen her, sondern auch vom

Umfeld und vorhergehenden, scheinbar "kleinen" Ereignissen her.

Zum Stil:

Anfangs ist es irritierend, sich durch diesen Flickenteppich an kurzen

Schnipseln, Aussagen, Interviewstückchen und Briefen hindurch zu

arbeiten. Doch sehr bald erscheint dieser Stil die einzig richtige und

passende Methode, um dem Ausmaß des Geschehens gerecht zu werden.

Wenn Emily, eine neue Schülerin an der Schule, die ebenfalls

Schwierigkeiten mit dem dort herrschenden Gruppenzwang hat, zum

dritten Mal ein kurzes Statement über Brendan abgibt, wenn der Direktor

immer wieder auf Abwehrkurs (unsere Schule ist eine gute und soziale)

geht, wenn eine bestimmte Lehrerin sich wiederholt fragt, ob man nicht zu

oft die Augen vor offensichtlichen Missständen verschlossen hat und Gary

und Brendan immer mehr in Gewaltphantasien verfallen, dann entsteht

bald ein immer dichter werdendes Erklärungsnetz.

Mit jedem Detail, das angefügt wird, verstehen wir als Leser mehr; auch

wenn ein wirkliches "Verständnis" für einen solchen Gewaltausbruch

natürlich nie ganz gegeben sein wird.

Nein, es liest sich ganz und gar nicht "schwierig", die Puzzlearbeit, die uns

abverlangt wird, macht Spaß (wenn man das Wort bei diesem Thema

überhaupt benutzen kann) und eine tiefere Erkenntnis über die inneren

Abläufe von Menschen (es geht ja nicht nur um diese Teenager, sondern

auch um deren erwachsenes Umfeld) erzeugt sogar eine gewisse

Befriedigung beim Lesen.

Rhues Anliegen:

Morton Rhue hat, wie schon bei seinem Erstling, der "Welle" ein

politisches und soziales Anliegen. Einerseits ist dieses Buch ein Baustein

im Kampf gegen strengere Waffengesetze in den USA (wir wissen, dass

dieses Thema ein Dauerbrenner in den Staaten ist, Clinton hat ja immer

wieder Vorstöße in diese Richtung gemacht, aber die Waffenlobby ist dort

sehr mächtig), andererseits ist es auch ein Appell und eine Art Hilferuf,

dass endlich ein menschlicherer Umgang mit Jugendlichen und Menschen,

die nicht "mainstream" sind, die sich nicht problemlos sozialen und

Gruppenzwängen unterwerfen können oder wollen, geübt und praktiziert

wird.

Er macht es sich aber nicht so leicht, wie jetzt der Eindruck entstehen

könnte, denn trotz der vielen Erklärungsansätze für die Tat wäscht er Gary

und Brendan nicht rein, nein, er konstatiert nur, dass j e d e r auch ein

Stück Verantwortung für das Klima, das in seinem näheren Umfeld

herrscht, hat.

---und dass Toleranz und Interesse für seine Mitmenschen Werte sind,

die mehr wiegen als schulische und sportliche Erfolge...

Mein Fazit:

Ein erschütterndes Buch, und ein sehr gelungenes, nicht nur (aber vor

allem) für Jugendliche und Erwachsene, die - sei es weil sie beruflich mit

Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sei es, weil sie Eltern sind -

Interesse an dieser Thematik haben.

Natürlich ist einiges zu sehr auf amerikanische Verhältnisse

zugeschnitten, manches ist bei uns halt doch noch anders, so der

wesentlich strengere Umgang mit Waffen oder aber auch, dass

Sportlichkeit in unserer Gesellschaft nicht den hohen Stellenwert hat wie in

den USA. Abgesehen von diesen Kleinigkeiten kann man aber die

Problematik durchaus auf europäische Verhältnisse übertragen.

Aktualisierung:

Ich habe diesen Bericht geschrieben vor den Ereignissen in Erfurt.

Ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll...

Morton Rhue hat Erfurt sicher nicht vorausgesehen, er hat ja eher Fälle,

die in Amerika schon geschehen sind, nachbearbeitet. Dennoch: natürlich

kann man sein Buch auch als Warnung verstehen, als Mahnung, dass

überall so etwas passieren kann. Aber auch als Hoffnung, dass man mit

viel Sensibilität und Bemühen um Verständnis für Jugendliche mit

Schwierigkeiten im Vorfeld solche Katastrophen (vielleicht) vermeiden

kann.

Ich möchte jetzt nicht von einer Amerikanisierung Deutschlands sprechen.

Auch nicht von Gewalt verherrlichenden Videospielen, von bluttriefenden

Filmen, von der Forderung nach noch strengeren Waffengesetzen, von

einer besseren psychologischen Ausbildung von Lehrern und auch nicht

von mehr Geld für die Betreuung und Erziehung unserer Jugend.

Doch, natürlich möchte ich darüber sprechen, denn all dies sind Elemente

dessen, was geschehen ist. Aber eben nur Elemente. Ich glaube, dass in

Erfurt so ziemlich alles, was schief laufen kann, schief gelaufen ist, dass

sehr vieles zusammenkam und dass es eine absolute Sicherheit, dass so

etwas nicht noch mal passiert, auch unter günstigsten Bedingungen nicht

geben kann.

Vielleicht ist Morton Rhues neues Buch ein kleiner Beitrag für eine neue

Kultur des Nicht-Mehr-Wegsehens.


   

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